Abweichung als Schock

Gezügeltes Essen ist mittlerweile eine eigenständige Essenskultur. Da der überwiegende Teil der Menschen im westlichen Kulturkreis sich beim Essen bremst, kann man mittlerweile annehmen, dass die Form des gezügelten Essens auch eine kulturelle Errungenschaft ist. Die Essensmenge zurückzufahren ist für viele Konsumenten eine akzeptable Essensgewohnheit geworden. Gewöhnungsfaktoren sorgen dafür, dass nach Ablauf von Zeit ein anfängliches Leiden verschwindet. Essen nicht zu einem quantitativen Ereignis abzuwerten, bedeutet automatisch auch, dass Konsumenten mehr Wert auf Qualität legen und Essen als Ereignis tendenziell eher zelebriert wird. Traditionelle Essensgewohnheiten in der Form, in der Zubereitung und als gesellschaftlicher Akt spielen heute zumindest in der häuslichen Gemeinschaft nur noch eine untergeordnete Rolle. Neue Formen an Essenskultur haben sich etabliert.

Essen in einer modernen Gesellschaft ist heute auch ein Akt geistiger und seelischer Ausdrucksform. So eingestuft wird Essen als Vorgang umsorgt und ist Ausdruck einer verfeinerten Lebensweise und spricht insbesondere jüngere Generationen an. Essen ist eine soziale Erscheinung und unterliegt insofern sozialen Rahmenbedingungen. Essen unterliegt aber auch gesundheitlichen und modischen Kriterien und ist deshalb besonders störanfällig. Als Teil eines Normen- und auch Wertesystems provoziert es auch bestimmte Verhaltensmuster heraus, mit denen vordergründig jüngere Leute sich oft nicht mehr identifizieren können und müssen, denkt man z. B. an Tischgepflogenheiten wie gerade Haltung, keine Ellbogen auf dem Tisch, Essen mit dem kompletten Besteck, Tischgebet, oder erst Aufstehen, wenn alle fertig sind bzw. es erlaubt wird. Essenskultur ist heute auch Ausdruck individueller Lösungen als Bestandteil und Teilhabe der Gemeinschaft.

Ein zumindest vorübergehend gesundheitsgefährdendes Essverhalten kann in seiner Entstehung problemlos auch mit den Kriterien eines Kulturschocks verglichen werden. Ahnt doch keiner, der sich auf eine Abweichung in seinem Essverhalten als Ausdruck seiner Individualität oder auch als Protest einlässt, was auf ihn zukommen kann. Die persönliche Reaktionsform bleibt eine unbekannte Größe und erfordert letztendlich die ganze Person, um zufriedenstellende Lösungen für sich zu entwickeln.  Aufgezwungene Anpassungsvorgänge irritieren den Konsumenten und führen oft dazu, dass z. B. Eltern das Gegenteil von dem erreichen, was sie eigentlich wollen.